Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 373 Randnummer 70

In allen Modellen steckt ein Körnchen Wahrheit, machen sie doch darauf aufmerksam, wie voraussetzungsvoll die begründete Annahme eines rechtlich relevanten Ereignisses auf der Grundlage einer Zeugenbekundung ist. Doch ist keines der Modelle frei von Zweifeln, soweit die Anwendung von Sätzen der Wahrscheinlichkeitstheorie (Multiplikationsregel, Bayestheorem) empfohlen wird, da wir in weiten Bereichen nicht wissen, ob die Anwendungsbedingungen gegeben sind, unter denen allein diese Sätze zu den angestrebten korrekten Gesamtbeurteilungen führen. Kaplan spricht von ,,independent probabilities", und in der Tat ist die Multiplikationsregel für das gemeinsame Auftreten zweier unabhängiger Ereignisse definiert (Paradigma: der Wurf mit zwei Würfeln). Entwickeln sich aber die Aufnahme eines Erlebnisses und der Abruf dieses Erlebnisses so unabhängig voneinander wie die Ergebnisse zweier Würfel bei einem Wurf? Diese Frage dürfen wir nach allem, was wir etwa über die Zusammenhänge von Aufmerksamkeit und Gefühlsbeteiligung für Wahrnehmung und Gedächtnis wissen (oben RN 26, 27, 34 f.) getrost verneinen. Wir sollten darum aber die Heranziehung der Multiplikationsregel nicht sofort verwerfen. Möglicherweise leistet sie auch da noch gute Dienste, wo Unabhängigkeit im skizzierten Sinne nicht gewährleistet ist. Denken wir uns zum Beispiel die Kästen in der Irrtumskette (oben RN 69) durch Filter voneinander getrennt, deren Durchlässigkeit für den Informationsfluß von den unterschiedlichsten Umständen abhängt, so gibt die Multiplikationsregel korrekt die am Ende zu erwartende Informationsmenge an gleichgültig, ob die Durchlaßwahrscheinlichkeiten der Filter voneinander abhängig sind oder nicht. Man muß nur unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Informationen die Durchlaßwahrscheinlichkeit jedes einzelnen Filters bestimmen.


vorherige Randnummer nächste Randnummer