Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 373 Randnummer 27

2. Das Gedächtnis

Wir halten Aufmerksamkeitszuwendungen eines Zeugen, der uns ein Ereignis oder eine Situation schildern soll, deshalb für interessant, weil wir vermuten, daß die Dinge, denen man seine Aufmerksamkeit zuwendet, auch besser behalten werden (vgl. Baddeley S. 65 ff. und 308 f.). Mit dieser Vermutung bewegen wir uns im Bereich der Gedächtnisleistungen und damit in einem Bereich, der noch stärker von Spekulationen und divergierenden Modellvorstellungen durchsetzt ist als der Bereich der Wahrnehmungsphysiologie und Wahrnehmungspsychologie. Für den Juristen ist das um so bedauerlicher, als er ja gerade an den Gedächtnisleistungen seines Zeugen interessiert sein muß. Doch steht die Wichtigkeit der Gedächtnisleistung (nicht nur für den Zeugenbeweis) im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner Erforschtheit. Dabei fehlt es durchaus nicht an Forschungsaufwand. Auch ist die Zahl der Publikationen über das Gedächtnis beträchtlich. Nur ist es einerseits bis heute nicht gelungen, die vielfältigen Einzelerkenntnisse zu einem akzeptierten Modell zu integrieren, und andererseits hat gerade das in der Gedächtnisforschung wenig Beachtung gefunden, was an einem Zeugen in der Regel interessiert: die Erinnerung an Geschehensabläufe, Ereignisse und Situationen. Die Tierversuche, auf die aus ethischen Gründen die Gedächtnisphysiologen weitestgehend verwiesen sind, stehen unter dem Paradigma des gelernten Verhaltens und lassen schon aus diesem Grunde ganz unabhängig von den Problemen ihrer Interpretation für die tierische Gedächtnisphysiologie (vgl. Flohr/Bienhold Jahrbuch der Wittheit zu Bremen XXIV (1980), S. 83 ff.) keinen Schluß auf die physiologischen Grundlagen der allein Menschen möglichen Ereignisberichte zu (vgl. allgemein zur Physiologie des Gedächtnisses Laudien). Die Experimente der Psychologen wiederum prüfen aus untersuchungstechnischen Gründen vorwiegend das Behalten von Zahlen, Buchstaben, Silben, sinnvollen und sinnlosen Wörten und/oder Sätzen, seltener von zusammenhängenden Geschichten und fast nie von Ereignissen, an denen die Probanden vor längerer Zeit teilhatten. ,,Was not tut, sind mehr Techniken zur Erforschung des Gedächtnisses für reale Gegebenheiten, Techniken, mit denen untersucht werden kann, in welcher Weise der Mensch seine Wissensquellen heranzieht, um Ereignisse zu enkodieren und zu erinnern" ( Palef Psychologie VII, S. 905).


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