Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§§ 422, 423 Randnummer 4

Insgesamt verfährt die Rechtsprechung bei der Annahme materiellrechtlicher Auskunftspflichten außerordentlich großzügig. Dennoch stellt sich die Frage, ob es - abgesehen von der Bezugnahmeregelung des § 423 - nicht eine allgemeine, über die materiellrechtlichen Verpflichtungen hinausgehende, prozessuale Urkundeneditionspflicht gibt. Diese Frage ist schon für das geltende Recht zu bejahen (für einen entsprechenden Vorschlag de lege ferenda vgl. den Kommissionsbericht 1977, S. 145 ff.). Das ist für den kein Problem, der sich der von Stürner entwickelten und ausgeführten Idee einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der nicht mit dem Beweisrisiko belasteten Partei anschließt (vgl. dazu § 138 RN 25 ff. und vor § 284 RN 10). Die allgemeine prozessuale Urkundeneditionspflicht kann man aber unabhängig von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht begründen. Der Gesetzestext läßt als solcher nicht erkennen, ob die §§ 422 und 423 eine abschließende Regelung der Urkundeneditionspflicht enthalten. Es fehlt das "nur", welches das offene einfache Konditional zu einem geschlossenen Bikonditional macht (vgl. Koch/Rüßmann Juristische Begründungslehre, 1982, § 21 2 a). Deshalb steht der Gesetzestext der Entwicklung weiterer Pflichten nicht entgegen. Allerdings hat der historische Gesetzgeber es abgelehnt, eine allgemeine Urkundeneditionspflicht, die in den Beratungen vorgeschlagen war, in das Gesetz aufzunehmen, so daß es seinem Willen entspricht, die §§ 422 und 423 als geschlossene Regelung zu lesen (vgl. zur historischen Entwicklung eingehend Steeger S. 73 ff.). Die gesetzesgebundene Rechtsanwendung (auch dazu Koch/Rüßmann §§ 12, 17 1, 22) kann sich darüber grundsätzlich nicht hinwegsetzen. Aber der Wille des historischen Gesetzgebers ist nicht mehr der des heutigen Gesetzgebers. Schon der Gesetzgeber des § 272 b Abs. 2 Nr. 1 a.F. ließ das Erfordernis der Bezugnahme für die Anordnung der Urkundenvorlegung fallen und tat dies ausweislich der Gesetzesmaterialien vor dem Hintergrund einer ebenfalls in das Gesetz aufzunehmenden allgemeinen Urkundeneditionspflicht (vgl. Steeger S. 142 ff.). An dieser Einstellung des Gesetzgebers hat sich durch die Novellierung im Rahmen der Vereinfachungsnovelle 1976 nichts geändert (Steeger S. 157 ff.). Auch § 273 Abs. 2 Nr. 1 ruht mithin auf der gesetzgeberischen Vorstellung von einer allgemeinen Urkundeneditionspflicht. Deshalb ist es nur konsequent, das Bezugnahmeerfordernis aus § 142 zu streichen (§§ 141 bis 144 RN 19; StJ-Leipold § 142 RN 2), und inkonsequent, die Streichung für den nicht mit dem Beweisrisiko belasteten Urkundeninhaber wieder zurückzunehmen (so StJ/Leipold § 142 RN 3 im Anschluß an Schreiber S. 74 ff., der den Einstellungswandel des Gesetzgebers schlicht übergeht). Man muß der allgemeinen Urkundeneditionspflicht im Wege einer Rechtsanwendung, die Norm- und Wertungswidersprche vermeidet, auch im Rahmen des auf Antrag einzuholenden Urkundenbeweises Rechnung tragen (a.A. RoSchwab § 122 IV 2 b; Zöller/Stephan § 422 RN 3; BL/Hartmann Anm. 1; wie hier Steeger S. 155 f.; Stürner S. 144 ff.).


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Gesetzestext