Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 24

Die Beweisnot ist ein Kennzeichen der Fälle, in denen der Tatrichter gehalten ist, seine Überzeugung unterhalb der Schwelle allgemeiner Erkenntnisskepsis zu bilden. Sie allein reicht indessen nicht aus. Mindestens unterschwellig spielen auch andere Gesichtspunkte eine Rolle, darunter solche, die von den Vertretern einer objektiven Beweismaßtheorie offen propagiert werden. Denn die über den Anscheinsbeweis gewährten Beweiserleichterungen spielen gerade dort ihre überragende Rolle, wo das Risiko der Fehlentscheidung die je beteiligten Interessen gleichermaßen trifft, weil ein Schaden nun einmal entstanden ist und es - bei Außerachtlassung der kollektiven Sicherungssysteme - nur noch darum geht, wen von zwei gleichgestellten Beteiligten die Belastung endgültig treffen soll. Streitet dagegen ein Individuum mit einem Versicherungskollektiv um seinen Versicherungsschutz, zögert die Rechtsprechung, vom Anscheinsbeweis zugunsten des Kollektivs Gebrauch zu machen (BGH JZ 1978, 111 - vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls; BGH Betrieb 1970, 1223 - grobe Fahrlässigkeit). Daß individuellen Willensentschlüssen das Gepräge des Typischen fehle, ist zwar ein auch außerhalb des Versicherungsrechts verwendetes Argument (BGHZ 31, 351, 357). Es ist jedoch hier wie dort brüchig, weil es weite Bereiche der Erfahrungswissenschaften schlicht vernachlässigt. Auch die Rechtsprechung scheint es immer weniger ernst zu nehmen (BGHZ 59, 132, 136; weitere Nachweise bei Egon Schneider MDR 1971, 535 ff.). Ganz und gar typisch ist es schließlich, daß Einschreibebriefe ihren Adressaten erreichen, und dennoch wird ein Anscheinsbeweis nicht zugelassen, weil es in 266 von 1 Million Fällen vorkomme, daß Einschreibesendungen verlorengingen (BGHZ 24, 308, 312 ff.). Damit ist jedoch keine ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs dargetan. Vielmehr hat der BGH Gespür dafür bewiesen, daß erstens durch eine Fehlentscheidung über den Zugang eines den Versicherungsschutz aufhebenden Mahnschreibens der Versicherungsnehmer regelmäßig härter betroffen ist als das Versicherungskollektiv und daß zweitens der nicht in den Genuß des beweiserleichternden Anscheins zu kommen braucht, der seine Beweisnot durch geeignete organisatorische Maßnahmen (Einschreiben mit Rückschein) verhindern kann (vgl. auch Walter ZZP 90 (1977), 270, 283 f.; Bender in FS Baur, S. 247, 261 f.; Prütting S. 103 ff.).


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Gesetzestext