Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 23

Die Rede vom typischen Geschehensablauf und von der ernsthaften Möglichkeit des atypischen Geschehensablaufs ist nicht sonderlich präzise. Vermutlich läßt sich der Anscheinsbeweis als ein Argument rekonstruieren, in dem ein statistischer Erfahrungssatz verwendet wird mit den Anscheinszeichen als Wennkomponente (Bezugsklasse, Kollektiv) und dem entscheidungserheblichen Merkmal als Dannkomponente (Ereignisklasse) und einem deutlich über 0,5 liegenden Wahrscheinlichkeitswert (vgl. Musielak/Stadler RN 160, 165). Im Augenblick interessanter als die formale Rekonstruktion ist der dem Anscheinsbeweis von der Rechtsprechung zugewiesene Anwendungsbereich. Er betrifft ganz überwiegend Schadenshaftungsfälle, in denen entweder der Ursachenzusammenhang zwischen einem in der Regel pflichtwidrigen Verhalten des Anspruchsgegners und dem Schaden (der Rechtsgutsverletzung) des Anspruchstellers oder aber die Pflichtwidrigkeit (das Verschulden) eines für den Schaden des Anspruchstellers ursächlichen Verhaltens des Anspruchsgegners problematisch sind (Nachweise bei Schneider § 26; Greger S. 148 ff.; ders . VersR 1980, 1091 ff.). Dabei handelt es sich um Fragen, deren minutiöser Nachweis im konkreten Fall erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Beim Ursachenzusammenhang liegt das aus theoretischen Gründen auf der Hand. Der Ursachenzusammenhang selbst ist nicht beobachtbar. Er ist lediglich als Bedingungsanalyse oder als statistische Analyse rekonstruierbar (vgl. Stegmüller Probleme Bd. I, S. 583 ff.). Diese Rekonstruktionen sind mit mehrfachen Unsicherheiten belastet. Der Anscheinsbeweis mindert die dem Geschädigten daraus erwachsende Belastung. Nicht anders steht es beim Nachweis der Pflichtwidrigkeit. Auch hier sind regelmäßig Fälle betroffen, in denen es wegen des möglichen Zusammenwirkens vielfältiger Umstände (Schiffskollisionen, Straßenverkehrsunfälle, medizinische Eingriffe) im konkreten Fall außerordentlich schwierig ist, das Verhalten zu benennen, das die Pflichtwidrigkeit begründet. Ist der Schaden aber so geartet, daß im allgemeinen, typischerweise das ursächliche Verhalten auch ein pflichtwidriges ist, helfen dem Geschädigten die Grundsätze des Anscheinsbeweises aus seiner Beweisnot.


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Gesetzestext