Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 284 Randnummer 9

3. Kritik

Das vorgestellte Modell ist seiner begrifflichen Klarheit und gedanklichen Durchstrukturierung wegen verführerisch; für die Bewältigung der mit der Sachverhaltsrekonstruktion gestellten Aufgabe ist es jedoch inadäquat. Es berücksichtigt in seiner Fixierung auf die Beweislastregeln, die nur bei einem nach Ausschöpfung der gegebenen Beweismöglichkeiten verbleibenden non-liquet eine notwendige Funktion wahrnehmen, weder die Mitwirkungs- und Förderungspflichten des Gerichts noch die der im Falle des non-liquet nicht beweisbelasteten Partei in ausreichendem Maße (vgl. vor § 138 RN 5 ff.). Ein Gericht, das sich modellgemäß damit begnügte, angesichts eines ungenügenden Parteivortrags oder der Beweisfälligkeit einer Partei die Hände in den Schoß zu legen und der betroffenen Partei die Niederlage im Urteil zu attestieren, verstieße schon gegen die in § 139 Abs. 1 normierte Aufklärungspflicht (zu Unrecht a.A. BGH NJW 1984, 310 mit ablehnender Anmerkung Deubner). Diese verlangt in jedem Stadium des Verfahrens einen Sachstandshinweis namentlich an die dann vom Prozeßverlust bedrohte Partei. Uneinig ist man sich jedoch darüber, ob das Gericht über die bloße Aufklärung der belasteten Partei hinaus tätig werden darf, indem es etwa den Parteivortrag durch offenkundige oder erschlossene oder in der Beweisaufnahme bekannt gewordene Daten unter Beachtung des Rechts auf rechtliches Gehör ergänzt (bei offenkundigen Tatsachen dafür RG JW 1933, 1655 und inzident BGHZ 31, 43, 45; dagegen BAG NJW 1977, 695; bei einer in der Beweisaufnahme bekannt gewordenen Tatsache dagegen in einem obiter dictum LG Berlin NJW 1978, 1061 im Anschluß an RoSchwab § 78 II 1), bei Beweisfälligkeit den Beweisangeboten der nicht beweisbelasteten Partei folgt (dafür Walther NJW 1972, 237 ff.; dagegen Weber NJW 1972, 896 ff.) oder von Amts wegen Beweis erhebt. Praktisch mag man sich hier häufig mit der Fiktion helfen, daß eine Partei die nicht von ihr in den Prozeß eingeführten Behauptungen und Beweise jedenfalls insoweit übernimmt, als sie ihr günstig sind. Die Zuflucht zu Fiktionen zeigt jedoch nur an, daß das theoretische Modell den praktischen Bedürfnissen nicht genügt. Das über der Verhandlungsmaxime errichtete theoretische Konstrukt ist brüchig geworden (grundsätzlich anderer Ansatz bei Brehm S. 21 ff., der unter Hervorhebung der Anwaltsverantwortung das Bestimmungsrecht der Parteien über den Streitstoff zu retten sucht). Die von vielen Theoretikern als Sünden wider den Geist der Verhandlungsmaxime gebrandmarkten ,,Übergriffe" des Gerichts bei der Sachverhaltsrekonstruktion sind schlichte Erfüllungen des gesetzlichen Auftrags, eine dem materiellen Recht entsprechende Konfliktlösung auf der Grundlage wirklichkeitsgerechter Sachverhaltsrekonstruktionen zu finden. Sinnfälliger Ausdruck dieses Auftrags sind die im Laufe der Zeit immer weiter ausgebauten Möglichkeiten des Gerichts, im Wege vorbereitender Anordnungen (§ 273), durch Aufklärung (§ 139), über die Beweiserhebung von Amts wegen (§§ 141 bis 144, 448) und durch die Gestaltung des Haupttermins (§ 278) auf die zur Sachverhaltsaufklärung erforderliche Informationsbeschaffung Einfluß zu nehmen. Auch RoSchwab (§ 78 I 4) sprechen angesichts dieser Möglichkeiten trotz ihrer Polemik gegen die Kooperationsmaxime von einer Arbeitsgemeinschaft der Parteien und des Gerichts in bezug auf die Stoffsammlung und erlauben dem Gericht auch die Ergänzung des Parteivortrags um offenkundige Tatsachen (§ 117 I 3) und Schlußfolgerungen (§ 78 II) entgegen dem aus der Verhandlungsmaxime abgeleiteten Verbot, von Amts wegen neue Tatsachen in den Prozeß einzuführen (§ 78 I 4).


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