Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 373 Randnummer 12

Eine erste Schwierigkeit bereitet schon die Rede von Fehlleistungen. Die naheliegende und auch den bisherigen Ausführungen stillschweigend zugrunde gelegte Bestimmung läßt uns von Fehlleistungen immer dann sprechen, wenn ein Umweltereignis von einem Individuum nicht so aufgenommen und (später) abgerufen wird, wie es tatsächlich war. Selbst wenn wir die philosophischen Probleme der Annahme einer außerhalb unserer selbst existierenden Welt ausklammern und - was allein praktikabel ist - diese Annahme machen (vgl. Hajos S. 2 ff., 12 ff.; Rüßmann in: Hejl/Köck/Roth Wahrnehmung und Kommunikation, 1978, S. 279 ff.), müssen wir uns doch darüber im klaren sein, daß die gegebene Bestimmung der Fehlleistung nur dem Standpunkt eines die Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen eines Individuums beurteilenden externen Beobachters angemessen ist. Das wahrnehmende Individuum selbst beurteilt seine Leistungen nach eigenen Kriterien, die zwar mit denen des externen Beobachters übereinstimmen können, aber nicht müssen, weil es nicht die Aufgabe und Funktion des Wahrnehmungssystems ist, ein realitätsgetreues Abbild von der Umwelt zu liefern. Vielmehr ist das Wahrnehmungsystem des Menschen in die Selbstorganisation eines lebenden, mit der Umwelt zum notwendigen Überleben interagierenden Systems eingebettet und darauf ausgerichtet, im Zusammenhang mit anderen Subsystemen seinen Beitrag zur Stabilität und zur Erhaltung des Systems und/oder der Art gegenüber Störungen und Bedrohungen zu leisten. Dieser Beitrag zum Überleben im Gleichgewicht ist Ziel und Maßstab für das agierende System. Im Hinblick auf ihn sind im Zuge der Phylogenese, der Entwicklung der Art, die Außenweltreize verarbeitenden Teilsysteme des Systems Mensch ausgestaltet worden, welche im Zuge der Ontogenese, der Entwicklung des Individuums, noch individuell unterschiedlich geprägt werden können. Dem biologischen Grundgesetz genügen das menschliche Individuum wie die Art auch noch mit Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen, die vom Standpunkt des an realitätsgetreuer Widerspiegelung, Abbildung und Reproduktion der Umweltereignisse interessierten Juristen als Fehlleistungen bezeichnet werden können. Die Evolution strebte halt nicht auf den idealen Zeugen zu, sondern erlaubte eine Entwicklung mit „Fehl"leistungen, deren Spannweite vom Nichtaufnehmenkönnen gegebener Umweltzustände (Radioaktivität) bis zur Aufnahme nicht vorhandener Ereignisse (Sinnestäuschungen, Ergänzungen bruchstückhafter sensorischer Informationen), von der Erinnerung an weit zurückliegende, niemanden interessierende Kleinigkeiten bis zur Abrufblockade des sorgfältig durchgearbeiteten Lernstoffs im Prüfungsgespräch reicht.


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