Prof. Dr. Helmut Rüßmann

Indizien, Kausalität und Wahrscheinlichkeit

Vortrag gehalten im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität Bremen
Erstveröffentlichung in: Pasternack (Hrsg.), Erklären, Verstehen, Begründen, Schriftenreihe des Zentrums Philosophische Grundlagen der Wissenschaften, Bd. 1, 1985, S. 139 bis 146


I. Problemstellung

Die Anführung von “Kausalität” im Thema meiner Ausführungen ist geeignet, Mißverständnisse hervorzurufen. Ich beabsichtige nicht, zu Kausalitätsfragen in dem Sinne Stellung zu nehmen, was es wohl heißen möge, ein Ereignis der Art A sei Ursache für ein Ereignis der Art B [2]. Noch weniger möchte ich mich dazu äußern, wie man die nach einer Begriffsexplikation erforderlichen Feststellungen in einem konkreten Fall treffen könnte. Die Kausalität ist nur deshalb in mein Thema gerutscht, weil es in Schweden eine Beweiswertschule gibt, die bei der Verknüpfung von Indizien mit den zu beweisenden Sachverhaltsbehauptungen auf Kausalbeziehungen abhebt [3]. Mein zentrales Interesse gilt eben dieser Verknüpfung von bekannten Indizien und unbekannten aber zu beweisenden Behauptungen. Ich rekonstruiere die Fragestellung als Begründungsaufgabe und werde zu zeigen versuchen, daß Kausalanalysen nicht im Zentrum dieser Aufgabe stehen und daß man sich dennoch nicht völlig von ihnen befreien kann.

Ich bin Jurist, und von einem Juristen erwartet man in der Regel zweierlei: erstens daß er Fälle präsentiert, zweitens daß er die Fälle nach Rechtsregeln löst.

In der ersten Hinsicht werde ich Sie nicht enttäuschen, in der zweiten wohl. Ich nehme hier nicht zu Rechts- und Gerechtigkeitsfragen Stellung, obwohl sich hinter ihnen eine Fülle interessanter philosophischer und begründungstheoretischer Fragen verbirgt [4]. Mein Anliegen heute ist die Erörterung von Begründungsproblemen im empirisch-deskriptiven Bereich. Auch da mag es Normen geben, Normen, die die Begründung für eine auf den Prüfstand gehobene empirische Behauptung als akzeptabel und gelungen auszeichnen. Das sind aber nicht Normen von der Art, mit denen Juristen umzugehen pflegen, wenn sie Fälle nach Rechtsregeln entscheiden, sondern metatheoretische Normen zur Anleitung eines theoretischen Diskurses über den Geltungsanspruch empirischer Behauptungen.

II. Ein Fallbeispiel

Mein Fallbeispiel zur Überprüfung einer empirischen Behauptung stammt aus dem Bereich der Medizin. Da ich von der Medizin nichts verstehe, ist es selbstverständlich ein fiktives Beispiel.

Der Patient A wendet sich mit für ihn nicht erklärlichen somatischen Beschwerden an einen Arzt. Der kommt nach Aufnahme der Anamnese und verschiedener Befunde zu dem Ergebnis, daß A entweder an Gelbsucht oder an Grünsucht leidet. Die bisherigen Befunde erlauben es aber nicht sagen, ob es sich um Gelbsucht oder Grünsucht handelt. Der Arzt informiert seinen Patienten darüber, daß, um größere Schäden abzuwenden, sowohl Gelbsucht als auch Grünsucht unbedingt behandelt werden müßten, daß Gelbsucht etwa neunmal häufiger auftrete als Grünsucht, daß man gegen beide Krankheiten hervorragend wirksame Medikamente habe, daß es aber außerordentlich gefährlich sei, das Mittel gegen Gelbsucht bei Grünsucht und das Mittel gegen Grünsucht bei Gelbsucht zu verabreichen. Es gebe jedoch ein Testverfahren, welches mit einer Trefferquote von 80% Gelbsucht und Grünsucht voneinander unterscheide. Der Arzt schlägt vor, daß sich der Patient diesem Testverfahren unterwerfe. Der Patient willigt ein. Das Testergebnis weist auf Grünsucht.

Um nicht entgegen unserer Absicht auf ein normatives Gleis zu geraten, wollen wir die uns interessierende Frage nicht als Sollensfrage stellen: “Was soll der Arzt dem Patienten verschreiben?”, sondern als Seinsfrage: “Hat der Patient Grünsucht?” Die Seinsfrage zielt auf den Geltungsanspruch einer tatsächlich oder hypothetisch aufgestellten empirischen Behauptung und verlangt nach einer Begründung für diese Behauptung. Uns geht es also im folgenden darum, Regeln für Begründungen begründungsbedürftiger singulärer empirischer Behauptungen anzuführen, zu diskutieren, zur Annahme vorzuschlagen oder zu verwerfen. Dabei unterscheiden sich meine Fragen ganz offenbar von den erkenntnistheoretischen Fragen nach den Grundlagen und der Verläßlichkeit unserer Wahrnehmung, die die Kollegen an der Heiden und Roth im Rahmen dieser Ringvorlesung schon ausgebreitet haben. Auch befasse ich mich nicht mit den von Herrn Sandkühler angesprochenen Analogiebetrachtungen, die wohl zum Bereich der Heuristik theoretischer Entwürfe und damit zum Entdeckungszusammenhang zählen, der für die Begründung eines theoretischen Entwurfs nur wenig und für die hier aufgeworfene Frage der Begründung einer singulären empirischen Behauptung gar nichts hergibt. Herrn Pasternacks These, daß die Äußerung über den Inhalt eines Textes unausweichlich subjektiv sei, möchte ich ausdehnen auf alle Äußerungen zum Verstehen einer Situation und wohl mit Herrn Pasternack geltend machen: darauf kommt für Begründungsfragen nichts an! Uns interessiert nicht, wie jemand dazu gekommen ist, eine bestimmte Behauptung aufzustellen. Uns interessiert, ob es Gründe dafür gibt, die aufgestellte Behauptung zu akzeptieren oder zu verwerfen, und nach welchen Kriterien man tatsächlich angeführte Gründe in gute und weniger gute, relevante und irrelevante Gründe teilen kann. Dabei unterstelle ich für die hier durchzuführende Analyse, daß es keine Bedeutungsprobleme gibt. Wir verstehen, was mit der fraglichen Behauptung gesagt werden soll, und wir verstehen auch, was als Grund für diese Behauptung angeführt wird. Wir wissen nur nicht, ob die von uns verstandene Behauptung zutrifft, und noch nicht, was einen tatsächlich angeführten Grund zu einer akzeptablen Begründung macht.

In den Rahmen des Generalthemas unserer Ringvorlesung gehört meine Frage schon deshalb, weil das Begründen dort ausdrücklich erwähnt wird, aber auch deshalb, weil diejenigen Vertreter, die unserem Problem mit den scharfsinnigsten Analysen auf den Leib gerückt sind, dies unter dem Erklärungsparadigma von Hempel und Oppenheim, dem sog. H-O-Schema empirischer Systematisierungen, getan haben. Daß sich hier heute unter unseren Augen ein Paradigmawechsel vollzieht, bei dem das H-O-Schema verdrängt und vorgeschlagen wird, die Explikation eines auf Informationsgewinn zielenden pragmatischen Erklärungs- und Begründungsbegriffs abzukoppeln von den Kausalanalysen, weil jede Aufgabe für sich schon schwierig genug sei und der Wunsch nach gleichzeitiger Lösung beider Aufgaben beim heutigen Forschungsstand auf Unmögliches gerichtet sei [5], sollte sich der besonderen Aufmerksamkeit unseres Zentrums erfreuen. Die in jedem der zur abgekoppelten Behandlung vorgeschlagenen Bereiche festzustellende Hinwendung zu Wahrscheinlichkeitsanalysen wird eine solide wahrscheinlichkeitstheoretische Fundierung unserer zukünftigen Arbeiten unerläßlich machen. Es war wieder einmal mehr nicht die Kritik von außen, die der analytischen Philosophie verbundene Wissenschaftstheoretiker zum Paradigmawechsel und zum Abkopplungsvorschlag animiert hat, sondern die interne Auseinandersetzung, hinter deren Offenheit, Klarheit und Präzision man nicht zurückfallen darf, wenn man es vermeiden möchte, daß man nicht nur Probleme voneinander, sondern auch sich selbst von der “scientific community” abkoppelt.

III. Lösungsversuche und -probleme

Für meine Untersuchung stelle ich die Behauptung in den Raum: “Der Patient leidet an Grünsucht!” Wie könnte eine Begründung für diese Behauptung aussehen? - Es erfordert nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, daß derjenige, der zur Begründung eben dieser Behauptung aufgefordert wird, tatsächlich das Ergebnis des bei dem Patienten durchgeführten Tests anführen wird. Ist damit aber schon eine Begründung gegeben? Stellen wir einmal den zu begründenden Satz und den zur Begründung angeführten Satz zusammen!

Begründungsversuch I:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.

    Also leidet A an Grünsucht.

Mit dieser Anordnung haben wir zwei Festlegungen getroffen, die man in unserem Zusammenhang wohl explizit machen muß, auch wenn sie kaum der Rede wert erscheinen. Die erste Festlegung geht dahin, die Eigenschaft begründet zu sein, ausschließlich Sätzen zuzuschreiben und so auch die Begründungsrelation für Sätze zu reservieren. Die zweite Festlegung geht dahin, daß der zu begründende Satz eine Folgerung aus den zu seiner Begründung angeführten Sätzen sein soll. Der Begriff der Folgerung wird hier noch nicht in einem bestimmten Sinne - etwa dem der deduktiv-logischen Folgerung - festgelegt, sondern offen gehalten. Hier mag vorläufig die Alltagsvorstellung eines jeden von uns Urständ feiern.

1. Relevanzsicherung

Auch ohne die Explikation eines Folgerungsbegriffs stimmen wir wohl darin überein, daß der Begründungsversuch I unzureichend ist, eben weil ein Verbindungsglied zwischen dem zu begründenden und dem zur Begründung angeführten Satz fehlt, welches eine Folgerungsbeziehung deutlich werden läßt. Das mag sich ändern, wenn wir einen anderen Begründungsversuch in Betracht ziehen.

Begründungsversuch II:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.
  2. Wenn an einem Patienten, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet, der Gelb/Grün-Diskriminierungsversuch Grün ergibt, dann leidet der Patient an Grünsucht.

    Also: A leidet an Grünsucht.

Diesem Begründungsversuch würden wir wohl schon eher Vertrauen schenken. Der zweite Satz erst scheint dem ersten Relevanz zu sichern für die aufgeworfene Frage, ob A nun tatsächlich an Grünsucht leidet. Und das ist ein äußerst wichtiger Teilaspekt bei der Rekonstruktion und Überprüfung von Begründungen. Welche der tatsächlich angeführten Gründe sind eigentlich relevant? - Die Antwort lautet: Nur diejenigen der tatsächlich angeführten Gründe sind relevant, die in einer Rekonstruktion des Begründungsversuchs, welche die Folgerung des zu begründenden Satzes erlaubt, nicht gestrichen werden können, ohne daß die Folgerungsbeziehung gestört wird. Danach ist zweierlei erforderlich: einerseits die Rekonstruktion eines Begründungsversuchs bis zur Sicherung der Folgerungsbeziehung zwischen den angeführten Gründen und dem zu begründenden Satz und andererseits der Nachweis, daß in dieser Rekonstruktion der angeführte Grund wesentlich vorkommt.

Der Begründungsversuch II stellt sicherlich einen Fortschritt gegenüber dem Begründungsversuch I dar, was das gerade exemplifizierte Relevanzerfordernis anlangt. Aber auch er scheitert noch in diesem frühen Stadium. Der als Verbindungsglied fungierende Satz 2 nennt Voraussetzungen, über deren Vorliegen nichts gesagt wird. Und solange das nicht der Fall ist, bleibt der Versuch unvollständig, weil Satz 1 und 2 allein die Folgerung auf den zu begründenden Satz nicht tragen. Wir wollen diesen Mangel in einem weiteren Versuch beheben.

Begründungsversuch III:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstext ergab Grün.
  2. Wenn an einem Patienten, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet, der Gelb/Grün-Diskriminierungsversuch Grün ergibt, dann leidet der Patient an Grünsucht.
  3. A ist ein Patient, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet.

    Also: A leidet an Grünsucht.

Hier haben wir nun einen Begründungsversuch vor uns, der alle bisher diskutierten Merkmale einer korrekten Begründung für die fragliche empirische Behauptung, daß A an Grünsucht leide, erfüllt. Die zur Begründung angeführten drei Sätze erlauben die Folgerung der fraglichen Behauptung, und keiner der drei Sätze könnte gestrichen werden, ohne die Folgerungsbeziehung zu zerstören.

2. Wahrheitsprüfung

Wir haben Grund, mit uns zufrieden zu sein, aber noch keinen Grund zu jubeln. Die Sicherung der Relevanz angeführter Gründe unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Folgerbarkeit des zu begründenden Satzes ist zwar ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt. Unser Vertrauen in die Wahrheit der fraglichen Behauptung hängt auch von der Wahrheit der zur Begründung angeführten Sätze ab. Das Relevanzkriterium bewahrt uns nur davor, Energien auf die Wahrheitsfrage solcher Sätze zu verschwenden, die zwar tatsächlich für eine Begründung angeführt werden, sich aber bei der Rekonstruktion als für die Begründung irrelevant erweisen. Bei den für eine Begründung relevanten Sätzen aber stellt sich die Wahrheitsfrage - oder weniger scharf: die Frage nach der Akzeptabilität - unausweichlich, wenn sie den Übersetzungstest bestehen.

3. Übersetzungstest

Betrachten wir einmal den letzten Begründungsversuch unter diesem Gesichtspunkt, so werden wir gegenüber den Sätzen 1 und 3 kaum Bedenken erheben. Ganz anders sieht die Sache bei Satz 2 aus. Er erscheint in diesem Begründungsversuch als ein Satz, der einen ausnahmslos geltenden Zusammenhang zwischen dem Testergebnis und der entsprechenden Krankheit behauptet. Diese Behauptung deckt sich nicht mit unseren Fallinformationen, die dem Test zwar eine hohe Treffsicherheit von 80%, aber doch nicht die für den ausnahmslosen Zusammenhang erforderliche Treffsicherheit von 100% zuschreiben. Unser letzter Begründungsversuch leidet an einem Übersetzungsfehler.

Den Übersetzungsfehler haben wir bei der Frage nach der Wahrheit der für unsere Behauptung angeführten - im Rahmen des Begründungsversuchs III begründungsrelevanten - Sätze entdeckt. Es handelt sich aber um eine Fehlerart, die nicht notwendig mit der Wahrheitsfrage verknüpft ist. Übersetzungsfehler treten dann auf, wenn im Zuge der Übersetzung Informationen verändert, der Bedeutungsgehalt sprachlicher Gebilde vermindert oder vergrößert wird. Wir müssen nicht notwendig wissen, ob ein oder mehrere Sätze wahr sind, um Bedeutungsveränderungen feststellen zu können. Der Satz “Alle Philosophen spinnen”, hat einen anderen Bedeutungsgehalt als der Satz “80% aller Philosophen spinnen” ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt des einen oder anderen Satzes. Deshalb bietet die Kontrolle der Übersetzung einer Fallschilderung in eine Begründungsrekonstruktion einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt für die Qualität des Begründungsversuchs, ohne daß wir uns schon der Wahrheitsskepsis des Erkenntnistheoretikers stellen müßten. Die Übersetzung der in unserer Fallschilderung enthaltenen Aussagen über die Leistungsfähigkeit des Gelb/Grün-Diskriminierungstests in Satz 2 des Begründungsversuchs III war falsch, weil in Satz 2 mehr an Gehalt steckt als in den Aussagen der Fallschilderung. Wie aber lautet die richtige Übersetzung? - Schauen wir uns den nächsten Begründungsversuch an!

Begründungsversuch IV:

  1. Der an A durchgeführte Gelb-/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.
  2. Wenn an einem Patienten, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet, der Gelb/Grün-Diskriminierungsversuch Grün ergibt, dann leidet der Patient in 80% aller Fälle an Grünsucht.
  3. A ist ein Patient, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet.

    Also: A leidet an Grünsucht.

4. Einzelfallfolgerungen aus statistischen Sätzen

In diesem Begründungsversuch findet sich die Information, daß kein ausnahmsloser Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und den durch sie angezeigten Krankheiten besteht, durchaus wieder. Insoweit ist die in Satz 2 des Begründungsversuchs IV vorgeschlagene Übersetzung jedenfalls korrekter als die in Satz 2 des Begründungsversuchs III vorgeschlagene. Ob sie aber wirklich korrekt ist, wollen wir für einen kurzen Augenblick dahinstehen lassen, um einen Schritt zurückzugehen und uns zu fragen, ob Begründungsversuch IV überhaupt noch das Folgerbarkeitskriterium erfüllt. Die Antwort ist Nein, wenn man unter Folgerbarkeit allein Deduzierbarkeit verstehen wollte. Die Sätze 1 bis 3 im Begründungsversuch IV gestatten keine Deduktion des uns interessierenden Satzes. Deduziert werden könnte allenfalls der Satz: “A leidet in 80% aller Fälle an Grünsucht.” Aber von diesem Satz wüßten wir möglicherweise nicht einmal, was mit ihm gesagt sein soll. Wenn trotz fehlender Deduzierbarkeit noch von einer Folgerung des in Begründungsversuch IV als Folgerung gekennzeichneten Satzes gesprochen werden soll, muß ein anderer Folgerungsbegriff als der der deduktiven Logik verwendet werden. Viele sprechen in diesem Zusammenhang von induktiver Logik. Ich ziehe es vor, von einer statistischen Einzelfallregel zu sprechen. Die statistische Einzelfallregel soll es erlauben, statistische Informationen auf der Basis vieler Fälle für Urteile über einen Einzelfall aus der Bezugsbasis auszuwerten. Die Probleme, die sich für solche Auswertungen ergeben und die keine Parallele im deduktiven Fall haben, werde ich später angeben, wenn auch Raum für die Formulierung von Adäquatheitsbedingungen vorhanden ist. Vorerst möchte ich die oben zurückgestellte Frage nach der Korrektheit der Übersetzung der Sachverhaltsinformationen in den Satz 2 des Begründungsversuchs IV aufgreifen.

5. Die statistischen Informationen des Fallbeispiels

Die in der Fallschilderung enthaltene Information über die Treffsicherheit des Diskriminierungstests haben wir so übersetzt, daß ein Testergebnis in 80% aller Fälle die entsprechende Krankheit anzeigt. Ist das aber noch dieselbe Information wie die in der Fallschilderung enthaltene? Den meisten unserer selbstreferentiellen Gehirne will das wohl so scheinen. Gehen wir der Sache ein wenig weiter auf den Grund, und fragen wir uns, wie man wohl dazu gekommen ist, die Behauptung über die Treffsicherheit des Diskriminierungstests aufzustellen. Wenn nicht Scharlatane den Test verkaufen, müssen dem Verkauf des Tests Versuche vorangegangen sein, deren Ergebnisse gute Gründe für die Behauptung über die Treffsicherheit des Tests hergeben. Das kann nur in der Weise geschehen, daß man den Test an Kranken ausprobiert, die den Test gar nicht benötigen. Von diesen Kranken muß man nämlich schon vorher wissen, ob sie an Gelbsucht oder an Grünsucht leiden, um prüfen zu können, wie der Test funktioniert. Sollte sich bei diesen Versuchen ergeben, daß der Test bei Gelbsüchtigen in 80% aller Fälle Gelb und sonst Grün zeigt und bei Grünsüchtigen in 80% aller Fälle Grün und sonst Gelb sowie bei Gesunden weder Gelb noch Grün zeigt, dann ist es - eine hinreichend große Zahl von Untersuchungen unterstellt - gerechtfertigt, dem Test eine Treffsicherheit von 80% zuzuschreiben. Dieses Zuschreiben beruht auf dem induktiven Schlußverfahren von den Befunden einer Stichprobe auf die Merkmalsverteilung in der Grundgesamtheit.

Wenn ich die Versuchsanordnung und die Versuchsergebnisse, die es begründet erscheinen lassen, dem Test eine Treffsicherheit von 80% zuzuschreiben, zutreffend rekonstruiert habe, dann wird es fraglich, ob meine Übersetzung dieser Information in Satz 2 des Begründungsversuchs IV korrekt ist. Die statistischen Informationen aus der Fallschilderung lauten:

Wenn der Diskriminierungstest auf Gelbsüchtige angewendet wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Gelb. Wenn der Diskriminierungstest auf Grünsüchtige angewendet wird, dann ist das Testergebnis in 80 % der Fälle Grün.

Daraus ist im Begründungsversuch IV geworden:

Wenn das Testergebnis Grün ist, dann haben wir es in 80% der Fälle mit Grünsucht zu tun.

Das klingt ganz ähnlich und enthält doch einen gravierenden Unterschied. Wenn-Teil und Dann-Teil der Sätze sind vertauscht worden. Ob das ohne Bedeutungsveränderung möglich ist, sollte uns jedenfalls beschäftigen, wenn wir, ohne über besondere Kenntnisse in Logik und Statistik verfügen zu müssen, einmal überlegen, ob der Satz “Wenn es regnet, ist die Straße naß” bedeutungsgleich mit dem Satz ist: “Wenn die Straße naß ist, regnet es.” Vielleicht hat es ja auch gerade einen Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten gegeben bei einer Demonstration im Sonnenschein. Wenn aber die Übersetzung fragwürdig ist, sollten wir sie in einem weiteren Begründungsversuch durch die nicht fragwürdigen Ausgangssätze ersetzen.

Begründungsversuch V:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.
  2. Wenn ein an Gelbsucht erkrankter Patient dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Gelb.
  3. Wenn ein an Grünsucht erkrankter Patient, dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Grün.
  4. A ist ein Patient, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet.

    Also: A leidet an Grünsucht.

Bei diesem neuerlichen Begründungsversuch kommen wir schon deshalb in erhebliche Schwierigkeiten, weil wir nicht mehr sehen, wo denn eigentlich die Folgerungsbeziehung stecken soll. Satz 4 scheint irrelevant zu sein, und der Rest ist auch für eine Folgerung unter Heranziehung der statistischen Einzelfallregel nicht geeignet, da die Anwendungsbedingungen der statistischen Sätze gerade das voraussetzen, was wir mithilfe der Einzelfallregel zu erschließen hofften. Gibt es vielleicht noch eine dritte Art Folgerungsbeziehung für die Urteilsbildung über eine singuläre empirische Behauptung neben der Deduktion und der statistischen Einzelfallregel?

6. Kausalität und Beweiswert

In Schweden hat sich eine Beweiswertschule um Juristen, Psychologen und Statistiker gebildet, die so etwas anzunehmen scheint [6]. Man will dort den Beweiswert eines Beweismittels nicht danach bestimmen, wie wahrscheinlich die zu beweisende Behauptung unter dem Beweismittel ist, wie das bei der statistischen Einzelfallregel geschieht, sondern danach, wie wahrscheinlich das Funktionieren eines auf Kausalitätsüberlegungen basierenden Beweismechanismus ist. Das Bindeglied zwischen dem zu beweisenden Ereignis und dem beweisenden Indiz soll eine Kausalrelation sein und die Wahrscheinlichkeit des Bestehens dieser Relation den Beweiswert des Beweismittels im konkreten Fall ausmachen.

Vieles an diesem Konzept ist schon deshalb unklar, weil nirgendwo expliziert wird, was man unter einer Kausalrelation versteht. Ganz offenbar herrscht hier die alltägliche Vorstellung vom zwingenden Charakter einer solchen Relation vor. Ob man das noch aufrechterhalten kann, wenn man, wie dies in modernen Analysen zur Kausalität der Fall ist, die Kausalrelation wahrscheinlichkeitstheoretisch rekonstruiert [7], muß ich hier dahinstehen lassen. Man kann auch ohnedies zeigen, daß ein auf Kausalrelationen basierendes Begründungskonzept in unserer Fragestellung nicht weiter hilft, sondern im Gegenteil eher zu Fehlvorstellungen verleitet. Wir wollen das zeigen, indem wir die von den Schweden empfohlene Analyse in unserem Fallbeispiel anzuwenden versuchen.

Wir müssen uns fragen, wie wahrscheinlich es ist, daß die mögliche Kausalrelation “Grünsucht ruft das Testergebnis Grün hervor” im konkreten Fall besteht. Die Schweden scheinen, wie die Erörterung eines Parallelfalles zeigt [8], dahin zu tendieren, diese Wahrscheinlichkeit mit der Treffsicherheit des Tests gleichzusetzen. Als Begründung dafür könnte die Erwägung herhalten: Wenn wir über ein unabhängiges Kriterium für die Feststellung von Grünsucht verfügten, so würde die Untersuchung aller Testergebnisse mit dem Resultat Grün zu dem Ergebnis führen, daß ihnen in 80% der Fälle Grünsuchterkrankungen zugrunde lagen. Diese Überlegung ist indessen nur unter einer ganz besonderen Einschränkung korrekt, daß nämlich die Testergebnisse Grün aus den Versuchsreihen Grünsucht und Gelbsucht eine ihrem Anteil entsprechende Chance hatten, in den neuen Versuch einbezogen zu werden. Das ist zum Beispiel gewährleistet, wenn die Versuchsreihen Gelbsucht und Grünsucht gleich groß waren und alle Testergebnisse Grün in die neue Untersuchung einbezogen werden. Die folgende Versuchsanordnung mag das anschaulich machen:

1000 Grünsuchtfälle1000 Gelbsuchtfälle
Testergebnis Grün 800Testergebnis Grün 200
ergeben
1000 Testergebnisse Grün
mit 800 (= 80%) Grünsuchtfällen

Wegen der damit deutlich gewordenen Einschränkung müssen wir uns deshalb auch bei Kausalitätsbetrachtungen fragen, wie groß denn die Chance ist, daß im konkreten Fall die Grünsucht das Testergebnis Grün hervorrufen durfte, und wie groß die Chance ist, daß die Gelbsucht das Testergebnis Grün hervorrufen durfte. Nur wenn wir von einer Gleichverteilung der Chancen ausgehen dürften, wäre es gerechtfertigt, die Wahrscheinlichkeit für das Eingreifen der Kausalrelation mit der Treffsicherheit des Tests gleichzusetzen. Allein unter diesen Bedingungen brauchen wir den Umweg über die Kausalanalyse nicht zu gehen, weil uns jetzt ohne jede Kausalbetrachtung die Wahrscheinlichkeitstheorie Mittel zur Verfügung stellt, einen Satz zu erschließen, wie er als Satz 2 im Begründungsversuch IV vorkommt. Er bildet dann die Grundlage für die Anwendung der statistischen Einzelfallregel.

Wir kommen zu einem weiteren Begründungsversuch, in den wir die Gleichwahrscheinlichkeitsannahme einsetzen.

Begründungsversuch VI:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.
  2. Wenn ein an Gelbsucht erkrankter Patient dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Gelb.
  3. Wenn ein an Grünsucht erkrankter Patient, dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Grün.
  4. A ist ein Patient, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet.
  5. Vor der Durchführung des Tests war die Wahrscheinlichkeit, daß A an Grünsucht erkrankt war, genauso groß wie die Wahrscheinlichkeit, daß er an Gelbsucht erkrankt war.

Also: A leidet an Grünsucht.

7. Das Bayestheorem

Warum hier die statistische Einzelfallregel als Stützung für die fragliche Behauptung zur Anwendung kommen können soll, läßt sich dem Begründungsversuch VI nicht so ohne weiteres ansehen. Allerdings bringt uns die oben geschilderte Versuchsanordnung schon auf den richtigen Weg. Aus ihr konnten wir das gesuchte Ergebnis ja ohne weiteres ablesen. Mit einigen wenigen Grundkenntnissen der Wahrscheinlichkeitstheorie erfährt man aber auch ohne eine solche Anschauungshilfe, daß aus den Sätzen 2, 3, 4 und 5 ein Satz 6 mit dem (in den Sätzen 2, 3, 4 und 5 enthaltenen, aber nicht so ohne weiteres erkennbaren) Inhalt folgt:

Wenn das Testergebnis Grün zeigt, dann liegt dem in 80% aller Fälle Grünsucht zugrunde.

Diese wenigen Grundkenntnisse legen nämlich folgende Überlegung nahe:

Gefragt ist nach dem Anteil der Grünsuchtfälle unter des Testergebnissen Grün. Wir wissen aber nur etwas über den Anteil der Testergebnisse Grün unter den Grünsuchtfällen und dem Anteil der Testergebnisse Grün unter den Gelbsuchtfällen. Wenn wir dieses Wissen mit den Wahrscheinlichkeiten gewichten, daß wir es mit einem Gelbsuchtfall bzw. einem Grünsuchtfall zu tun haben, dann brauchen wir nur noch die gewichtete Wahrscheinlichkeit für Grün unter Grünsuchtfällen durch die Summe der gewichteten Wahrscheinlichkeiten von Grün unter Grünsuchtfällen und Grün unter Gelbsuchtfällen zu teilen, um die Antwort auf unsere Frage zu erhalten. Das ist die umgangssprachliche Umschreibung des sog. Bayestheorems [9]. Es lautet in abgekürzter Sprechweise der elementaren Wahrscheinlichkeitstheorie mit

p(G|T) als Ausdruck für die bedingte Wahrscheinlichkeit von Grünsucht beim Testergebnis Grün;

p(G) als Ausdruck für die vorgängige Wahrscheinlichkeit von Grünsucht;

als Ausdruck für die vorgängige Wahrscheinlichkeit von Gelbsucht und

p(T|G) als Ausdruck für die bedingte Wahrscheinlichkeit des Testergebnisses Grün beim Vorliegen von Grünsucht

Es ergibt unter Auswertung der in den Sätzen 2, 3, 4 und 5 des Begründungsversuchs VI enthaltenen Informationen

oder 80%

den Satz, den wir für eine Anwendung der statistischen Einzelfallregel benötigen.

Unser Ausgangsproblem haben wir damit aber immer noch nicht gelöst. Satz 5 in Begründungsversuch VI stimmt nicht mit den Fallinformationen überein und enthält somit wiederum einen Übersetzungsfehler. Korrigieren wir diesen Fehler und notieren wir einen letzten Begründungsversuch unter Auswertung der Informationen nach dem Bayestheorem zur Gewinnung eines für die statistische Einzelfallregel tauglichen Satzes, so erhalten wir

Begründungsversuch VII:

  1. Der an A durchgeführte Gelb/Grün-Diskriminierungstest ergab Grün.
  2. Wenn ein an Gelbsucht erkrankter Patient dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 20% der Fälle Grün.
  3. Wenn ein an Grünsucht erkrankter Patient dem Gelb/Grün-Diskriminierungstest ausgesetzt wird, dann ist das Testergebnis in 80% der Fälle Grün.
  4. A ist ein Patient, der entweder an Grünsucht oder an Gelbsucht leidet.
  5. Vor der Durchführung des Tests war die Wahrscheinlichkeit, daß A an Grünsucht erkrankt war, neunmal kleiner als die Wahrscheinlichkeit, daß er an Gelbsucht erkrankt war.
  6. Unter den Bedingungen 2 bis 5 beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß dem Testergebnis Grün ein Fall von Grünsucht zugrunde liegt, 31%.

Also: A leidet an Grünsucht.

Das kann man wiederum an einer Versuchsanordnung zeigen, welche die Fallinformationen als Werte übernimmt:

1000 Grünsuchtfälle9000 Gelbsuchtfälle
Testergebnis Grün 800Testergebnis Grün 1800
ergeben
2600 Testergebnisse Grün
mit 800 (= ca. 31%) Grünsuchtfällen

Von dem Begründungsversuch VII dürfen wir sagen, daß er alle Informationen der Fallschilderung vollständig und korrekt auswertet. Übersetzungsfehler haben wir uns nicht zuschulden kommen lassen. Unter der Voraussetzung, daß die Fallschilderung “wahr” ist, sind es auch die im Begründungsversuch angeführten Sätze. Nur haben wir jetzt womöglich Zweifel, daß die angeführten Sätze eine tragfähige Begründung für die Behauptung ergeben, daß A an Grünsucht leide. Denn auch nach dem Test, dessen Ergebnis auf ein Grünsuchtleiden des A hinweist, ist die Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil immer noch größer.

Ich möchte mich jedoch in dieser Frage nicht vorschnell festlegen.

Vielleicht ist es ja sinnvoll, Begründungen nach Stärkegraden zu unterscheiden. Immerhin hat das Ergebnis des Tests ein Grünsuchtleiden des A wahrscheinlicher gemacht, als es vor dem Test war, und man könnte sich Situationen denken, in denen es allein auf die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit und nicht darauf ankommt, welche Höhe die Wahrscheinlichkeit erreicht. Jüngste Entwicklungen in der Theorie der Erklärung und Begründung weisen denn auch in diese Richtung. Wolfgang Stegmüller kennzeichnet diese Entwicklungen insgesamt als pragmatische Wende mit der Aufgabe des dritten Dogmas des Empirismus, daß es gelingen müsse, den Erklärungs- und Begründungsbegriff ausschließlich logisch-sematisch zu explizieren [10].

IV. Die pragmatische Wende in der Explikation des Begründungsbegriffs

Ich kann diese Wende hier nicht im einzelnen nachzeichnen. Zum einen bin ich nicht sicher, ob ich sie selbst schon in allen Details verstanden habe, noch weniger überblicke ich ihre wichtigsten Folgen. Zum anderen erfordert selbst das, was ich verstanden zu haben glaube, zu einer verständlichen Darlegung in diesem Kreise so viel Zeit, daß sie den Rahmen unseres heutigen Zusammenseins sprengen würde. Ich muß deshalb auf die weitere Zusammenarbeit in unseren Zentrum setzen und mich hier damit begnügen, den einen und anderen zentralen Punkt der Wende zu benennen.

Da ist zunächst ein Paradigmawechsel zu verzeichnen. Über Jahrzehnte rankten sich die wissenschaftstheoretischen Bemühungen, den Erklärungs- und Begründungsbegriff zu explizieren, um das Subsumtionsmodell des H-O-Schemas im deduktiv-nomologischen Fall mit dem zu erklärenden (begründenden) Ereignis, dem Explanandum, als logische Folge aus Antezedensbedingungen und Gesetzmäßigkeiten, dem Explanans. Im einfachsten Fall sah das so aus:

Alle F sind G (Gesetzmäßigkeit)EXPLANANS
a ist ein F (Antecedensbedingung
a ist ein GEXPLANANDUM

Das Erklären und Begründen mithilfe statistischer Gesetzmäßigkeiten versuchte man, mit Analogiebetrachtungen zum deduktiv-nomologischen Fall in den Griff zu bekommen. Man nannte sie induktiv-statistische Systematisierungen und stieß bei ihnen auf ein den deduktiv-nomologischen Systematisierungen fremdes Problem: das Problem der Mehrdeutigkeit statistischer Systematisierungen. Damit ist gemeint, daß man mit je für sich zutreffenden statistischen Informationen mehrere statistische Systematisierungen in Analogie zum H-O-Schema im deduktiv-nomologischen Fall bilden kann, von denen die eine ein bestimmtes Ereignis als hoch wahrscheinlich erwarten läßt und die andere das genaue Gegenteil dieses Ereignisses mit einer hohe Wahrscheinlichkeit versieht. Dieser Fall liegt den folgenden Systematisierungen vor:

p(G,F) = 0,9p(G,H) = 0,1
a ist ein Fa ist ein H
a ist wahrscheinlich ein Ga ist wahrscheinlich kein G

Den Mangel schrieb man der Unvollkommenheit unseres Wissens über die im Prinzip deterministische Ordnung unserer Welt zu und empfahl, sich in einer derartigen Situation solange des Urteils zu enthalten, wie man nicht Informationen zur Verfügung hatte, die dem Kriterium der maximalen Bestimmtheit genügten. Bekannter ist dieser Grundsatz vielleicht unter dem Gebot der Wahl der engsten Bezugsklasse bei statistischen Schlüssen.

Heute ist der Glaube an die deterministische Ordnung unserer Welt verloren gegangen. Man geht von der Existenz irreduzibler Wahrscheinlichkeitsgesetze in der physikalischen Welt aus, einer Welt, die die Wissenschaftstheoretiker immer als Anwendungsfall für ihre Bemühungen gesehen haben. Dies und die bislang fruchtlosen Versuche, die Adäquatheitsbedingungen für deduktiv-nomologische Systematisierungen als Erklärungen unter Beschränkung auf syntaktische und semantische Erwägungen festzulegen, geben heute den Anstoß, den deduktiv-nomologischen Fall als paradigmatisches Modell für Erklärungen und Begründungen aufzugeben und an seine Stelle den statistischen Fall zu setzen, von dem dann der deduktiv-nomologische Fall nur ein Grenzfall mit p(G|F) = 1 ist.

Ein weiteres Merkmal der Wende ist die ausdrückliche Einbeziehung pragmatischer Dimensionen in die Explikation des Erklärungs- und Begründungsbegriffs. Man gibt nicht allein logisch-semantische Kriterien für Erklärungen und Begründungen an, sondern bezieht Fragesteller und Fragesituation in die Explikation mit ein. Das erlaubt den Verzicht auf Objektivierbarkeit von Wissensbeständen - selbstverständlich nur für die Explikationsaufgabe - und gibt der Möglichkeit Raum, je nach den Umständen ein und denselben Begründungsversuch einmal als gelungen und ein anderes Mal als nicht gelungen auszuzeichnen.

Abschließend möchte ich nur die Begriffsbestimmungen für Erklärung und Begründung nach der pragmatischen Wende zitieren, wie wir sie in Wolfgang Stegmüllers Explikationsversuch [11] finden:

(1) Einzelfallbegründung im epistemischen Minimalsinn. (Die Glieder einer verschärften Wissenssituation erhalten dieselben Indices wie die Beziehung dieser Situation selbst.)

(a) Relativ auf die ursprüngliche Wissenssituation K liefert TundC in der (epistemisch bereicherten) Wissenssituation KTundC nur dann eine Einzelfallbegründung für E im epistemischen Minimalsinn, wenn gilt:

(i) die reale Ausgangssituation K ist eine Wissenssituation von maximaler Bestimmtheit bezüglich E;

(ii) E ist ein singulärer Satz, also ein Satz von der Gestalt “Fa”;

(iii) T ist eine endliche Menge statistischer Sätze;

(iv) C ist eine endliche Menge singulärer Sätze;

(v) TC wird in K nicht gewußt;

(vi) die epistemisch bereicherte Wissenssituation KTundC ist eine Wissenssituation von maximaler Bestimmtheit bezüglich E;

(vii) BTundC(E)>B(E).

(b) Relativ auf die ursprüngliche Wissenssituation K und die (empirisch erweiterte) Wissenssituation KE bildet TundC in der (epistemisch bereicherten) Wissenssituation KTundC nur dann ein Explanans für E im epistemischen Minimalsinn, wenn gilt:

(i) die Ausgangssituation K ist eine Wissenssituation von maximaler Bestimmtheit bezüglich E;

(ii) E ist ein singulärer Satz;

(iii) die reale Wissenssituation KE ist eine empirische Wissenserweiterung der Ausgangssituation K (die letztere wird mit Realisierung von KE zum Hintergrundwissen bezüglich E);

(iv) T ist eine endliche Menge statistischer Sätze;

(v) C ist eine endliche Menge singulärer Sätze;

(vi) TC wird in KE nicht gewußt;

(vii) Die epistemische Bereicherung KTundC von K ist eine Wissenssituation von maximaler Bestimmtheit bezüglich E;

(viii) BTundC(E)>B(E).

Das Kernstück der Explikation ist in beiden Fällen die letzte Bedingung, welche besagt, daß E aufgrund von T und C eher zu erwarten ist als vorher. Die Rede vom epistemischen Minimalsinn ist dadurch gerechtfertigt, daß nicht verlangt wird, E müsse aufgrund von T und C wahrscheinlich sein (wie im Falltyp (3)), ja daß nicht einmal gefordert wird, E sei aufgrund von T und C wahrscheinlicher als non-E (wie im Falltyp (2)).

Der Unterschied zwischen (a) und (b) liegt im wesentlichen darin, daß im Begründungsfall eine Relativierung auf nur zwei Wissenssituationen K und KTundC erfolgt, während im Erklärungsfall zwischen drei Wissenssituationen K, KE und KTundC zu unterscheiden ist.

(2) (a) Von einer Einzelfall-Begründung im starken probabilistischen Minimalsinn sprechen wir, wenn die Bedingungen (i) bis (vi) von (1) (a) erfüllt sind, während die letzte Bedingung durch folgende zu ersetzen ist:

(vii) BTundC(E) ist mindestens 1/2>B(E).

(b) Analog für den Erklärungsfall mit der entsprechenden Änderung von (viii).

(3) (a) Von einer Einzelfall-Begründung im probabilistischen Idealsinn oder im (1-e)-Sinn sprechen wir, wenn die Bedingungen (i) bis (vi) von (1)(a) erfüllt sind, während die letzte Bedingung zu ersetzen ist durch:

(vii) BTundC(E) ist mindestens1-e >B(E) für ein sehr kleines e.

(b) Analog für den Erklärungsfall mit den entsprechenden Änderungen.

B kennzeichnet eine Glaubensfunktion, die den Axiomen der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie genügt. Im übrigen dürften die Begriffsbestimmungen aus sich heraus verständlich sein. Sie zeigen an, wie man zwischen Erklärungen und Begründungen unterscheiden kann, machen deutlich, daß Begründungen wie Erklärungen dreifach gestuft sein können, und berücksichtigen das Mehrdeutigkeitsproblem bezogen auf die jeweilige Wissenssituation. Was noch aussteht, aber den Rahmen einer Begriffsexplikation sprengt, sind erstens Regeln für die Festlegung der maximalen Bestimmtheit einer Wissenssituation oder besser Regeln für den Verzicht auf Bemühungen um die Erweiterung der Wissenssituation sowie zweitens Kriterien dafür, wann man sich mit einer Begründung im epistemischen Minimalsinn zufriedengeben darf und wann man eine Begründung im starken probabilistischen Minimalsinn oder gar im probabilistischen Idealsinn verlangen muß.

In der ersten Hinsicht wird man daran denken können, daß Erweiterungsbemühungen unterbleiben dürfen, wenn nicht damit zu rechnen ist, daß die Erweiterungen die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung verändern. Das weist auf Parallelen in der Kausalitätsdiskussion, wenn man dort als Ursache eines Ereignisses X solche Ereignisse Y ansieht, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von X erhöhen [12]. Das kann ich hier nicht weiter ausführen. In der zweiten Hinsicht möchte ich mich mit einer Rückkehr zum Ausgangsfall begnügen:

Wenn der Schaden, der dem Patienten aus der Behandlung seiner Gelbsucht oder Grünsucht mit dem jeweils falschen Medikament droht, gleich groß ist und sich auch nicht von dem Schaden unterscheidet, den der Patient bei einer Nichtbehandlung zu gewärtigen hat, dann lag eine Situation vor, in der es auf den starken probabilistischen Minimalsinn ankam. Dieser konnte durch den Diskriminierungstest nicht verändert werden, wie auch immer dieser Test ausfiel. Darum war die Durchführung des Tests unsinnig, und der Arzt sollte die Kosten dafür tragen.

Die Schlußbemerkung bringt den Juristen im Vortragenden zum Vorschein. Er bittet um Nachsicht für diese Deformation seines selbstreferentiellen Gehirns.