Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 373 Randnummer 31

Nach alledem ist für den Juristen genau diese Organisationsfrage von maßgeblicher Bedeutung: Nach welchen Prinzipien ist die Lagerung im und der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis organisiert? Die Physiologen haben auf die Frage (noch) keine Antwort (vgl. Laudien S. 110 ff.; Sinz in Klix/Sydow S. 226 ff.; Ott/Matthies Psychologie VI, S. 1004 ff.). Die Psychologen bieten für Lagerungs- und Abruforganisation verschiedene Modelle an. Im Vordergrund stehen dabei Annahmen über die sowohl semantische, an Bedeutungszusammenhängen ausgerichtete, als auch empirische Zusammenhänge berücksichtigende netzwerkartige Organisation der Gedächtnisinhalte in Propositionen (vgl. Arbinger S. 75 ff.; Baddeley S. 360 ff.; Norman/Rumelhart passim). Das erklärt sich daraus, daß die Gedächtnisorganisation häufig unter dem Blickwinkel von Lernprozessen und Wissenserwerb betrachtet wird. Interessiert man sich aber für die Wiedergabe von Erlebnissen und das Wiedererkennen von Personen und/oder Gegenständen, so muß man zu der Organisation des Gedächtnisses in Propositionen nach dem dem betreffenden Individuum eigenen Sprach- und Weltwissen noch in Rechnung stellen, daß auch sinnesspezifische Eindrücke eines Ereignisses (Bilder, Gestalten, Gerüche, Geräusche usw.) gespeichert werden und gegebenenfalls zum Abruf zur Verfügung stehen (vgl. Arbinger S. 95 ff.; Baddeley S: 246 ff., 290 ff.). Wie sonst sollte sich das Phänomen erklären, daß ich am Schreibtisch sitzend und über Probleme der Gedächtnisorganisation nachdenkend und schreibend mir einen Festspielbesuch aus dem vergangenen Jahr in Erinnerung rufen kann mit der Bühne vor Augen, der Musik im Ohr und dem Bratwurstgeruch in der Nase? Welche Rolle bei einer derartigen sinnesspezifischen Reproduktion, beim Film vor dem geschlossenen Auge, dem nicht erlebnisspezifischen Bedeutungs- und Weltwissen zukommt, bleibt dabei offen. Möglicherweise kann ich bei der Reproduktion des Festspielereignisses in mir die Musik zu einer bestimmten Szene nur deshalb erinnern, weil ich sie schon vorher häufig gehört und auch im Notenbild der Partitur schon nachvollzogen hatte, und der ebenso intensiv lauschende Nachbar kann das nicht, weil das Ereignis nicht auf ein entsprechend präpariertes Gehirn traf. Was in meiner Reproduktion aber dem Erleben der Festspielaufführung und was den zuvor erworbenen Kenntnissen zu danken ist, kann ich als reproduzierendes Individuum schlicht nicht beantworten. Vielmehr werden in der Reproduktion die konkreten Erlebnisinhalte mit dem Bestand des schon vorher vorhandenen Wissens untrennbar verwoben. Wie schon die bewußte Aufnahme eines Ereignisses von den Gedächtnisinhalten des aufnehmenden Individuums abhängt, so werden auch Speicherung und Reproduktion des Ereignisses von ereignisunabhängigen Gedächtnisinhalten vornehmlich des Bedeutungs- und Weltwissens gesteuert (vgl. zum ,,konstruktiven" Gedächtnis Arbinger S. 186 ff.).


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