Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 9

Selbst wenn man den Wahrscheinlichkeitsschluß auf das Einzelereignis G nicht prinzipiell verwerfen will, muß man sich die Folgeschwierigkeiten vergegenwärtigen, die dann entstehen, wenn man es mit Kettenverknüpfungen von I über H zu G (Beweiskette nach Bender/Nack RN 404) oder mit Mehrfachschlüssen von I 1 zu G und I 2 zu G (Beweisring nach Bender/Nack RN 403) zu tun hat. Für diese in der Praxis außerordentlich häufigen komplexen Informationslagen gibt es kein mathematisches Modell, das für alle Fälle eine verläßliche Berechnung der Gesamtwahrscheinlichkeit für das gesuchte Merkmal aus den in den einzelnen Informationsstufen geltenden Wahrscheinlichkeitswerten ermöglichte. Versuche, die von Schreiber in Deutschland, Ekelöf und seinen Schülern in Schweden in dieser Richtung unternommen worden sind, halten - ganz abgesehen davon, daß in der schwedischen Diskussion unnötigerweise ein vom mathematischen Wahrscheinlichkeitsmaß (Intervall von O bis 1) abweichender Beweiswert (Intervall von minus 1 bis plus 1) bevorzugt wird - einer kritischen Überprüfung nicht stand (Nachweise bei Koch/Rüßmann § 35; vgl. aber noch zum Zeugenbeweis vor § 373 RN 68 ff.). Schlimmer noch: eine statistische Information kann eine andere völlig entwerten, ohne daß man an der Wahrheit beider Informationen zweifeln müßte. Dieses Problem wird in der wissenschaftstheoretischen Literatur als Mehrdeutigkeit statistischer Systematisierungen behandelt (vgl. dazu Stegmüller Probleme Bd. I Kap. IX und Bd. IV 2. Halbband Teil IV; Ayer S. 214 ff.). In einem schon klassischen Beispiel fragt man nach der Religionszugehörigkeit einer bestimmten Person, von der man nichts anderes weiß, als daß sie aus Schweden stammt und zu den Lourdespilgern zählt. Schweden sind zu 90 % protestantisch, Lourdespilger zu 90 % katholisch. Das in seiner Wahrheit nicht angezweifelte objektive Erfahrungswissen zeichnet zwei Annahmen mit hoher subjektiver Wahrscheinlichkeit aus, die sich gegenseitig widersprechen. Hier hilft nicht die Mathematik; hier helfen nur Informationen über die Religionszugehörigkeit der schwedischen Lourdespilger. Wenn die nicht zur Verfügung stehen, muß man sich einer Entscheidung über die Religionszugehörigkeit der fraglichen Person enthalten. Das gilt leider nicht nur bei sich paralysierenden Argumenten. Auch wenn jedes Indiz mit dem ihm entsprechenden Erfahrungssatz für sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für das gesuchte Merkmal gibt, kann es durchaus sein, daß beide Indizien zusammen das Auftreten des gesuchten Merkmals sehr unwahrscheinlich machen oder gar ausschließen (Nachweis bei Koch/Rüßmann § 33). Für die Erschließungsmöglichkeiten von Sachverhaltsmerkmalen aufgrund von Indizien und statistischen Erfahrungssätzen bedeutet das: Statistische Syllogismen in Anlehnung an den modus ponens der deduktiven Logik sind grundsätzlich nur dann vertretbar, wenn statistische Erfahrungssätze zur Verfügung stehen, deren Wenn-Komponente das gesamte für das Merkmal relevante Indizienmaterial eines Falles erfaßt (Kriterium des Gesamtdatums oder der maximalen Bestimmtheit, vgl. Stegmüller a.a.O.). Da jedes zusätzliche Indiz die Bezugsklasse des statistischen Erfahrungssatzes, das zu untersuchende Kollektiv, kleiner macht, hat man häufig bezweifelt, daß für eine nennenswerte Zahl von Fällen hinreichend geprüfte und bewährte Erfahrungssätze (Geltungsproblem!) zur Verfügung stehen (Greger S. 49; Gottwald S. 193 f.).


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Gesetzestext