Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 20

c) Zweifelsüberwindung durch Überzeugungsbildung

In einer dritten Reaktion vermeidet man diese Schwierigkeiten präziser Wertermittlung, ohne notwendig in die Problematik der ersten Reaktion zurückzufallen und eine möglicherweise nicht gerechtfertigte Fülle an Beweislastentscheidungen in Kauf zu nehmen. Dazu muß man dem Gericht einen Ermessensspielraum zubilligen, der durch die Eckpunkte der überwiegenden Wahrscheinlichkeit und des allenfalls noch durch einen abstrakten Skeptizismus bedrohten Vertrauens in die Wahrheit einer Sachverhaltsbehauptung begrenzt ist. Innerhalb dieses Spielraums entscheidet das Gericht ad hoc über das Maß, das es in der konkreten Situation verlangt, um eine Tatsachenbehauptung als wahr seinem Urteil zugrunde zu legen. In diese Entscheidung können ganz unterschiedliche Erwägungen einfließen: Kostenbewertungen für Fehlentscheidungen, besondere Beweisschwierigkeiten, die Kooperationsbereitschaft der Parteien bei der Informationsbeschaffung, Zweckerwägungen im je betroffenen materiellrechtlichen Bereich und anderes mehr (vgl. Bender in FS Baur, S. 247, 251 ff.). Wenn man sodann auf eine präzise Festlegung des erforderlichen und erreichten Beweismaßes in diesem Rahmen verzichten will, liegt es nahe, auf die richterliche Überzeugung zurückzugreifen, in ihrer Bildung einen Willensakt zu sehen, mit dem ein Richter durchaus konkrete und nicht nur in allgemeinem Erkenntnisskeptizismus gründende Zweifel überwindet, weil ihm nach Lage der Dinge diese Entscheidung die vernünftigste scheint. ,,Man gesteht dem Richter damit (in Grenzen) ein Billigkeitsurteil zu, verzichtet aber darauf, einen Katalog zulässiger Billigkeitsargumente aufzustellen oder sonstige methodische Anweisungen zu geben, wie eine Überzeugung zu gewinnen ist" (Gottwald S. 208). Dieser von Gottwald als Haltung der §§ 286, 287 ZPO verstandene Satz gibt wohl auch die Praxis der Gerichte treffend wieder; als Postulat darf man ihn jedoch nicht ohne flankierende Maßnahmen übernehmen. Die Verantwortung, die man dem Richter damit in der Beurteilung der Tatfrage einräumt, muß einhergehen mit der Befähigung, diese Verantwortung auch sachgerecht wahrzunehmen. Das erfordert eine Unterweisung in die Probleme der Sachverhaltsrekonstruktion auf moderner wissenschaftstheoretischer Grundlage, für die hier allenfalls eine unverzichtbare Grundskizze gelegt worden ist. Der Stand der juristischen Ausbildung läßt da noch manchen Wunsch offen, nicht zuletzt den nach für eine solche Ausbildung qualifizierten Ausbildern. Mit einer entsprechenden Ausbildung ist die ad hoc Lösung Gottwalds ihrer größeren Flexibilität wegen der von Walter (S. 191 ff.) vorgeschlagenen Fallgruppenbildung für ein reduziertes Beweismaß vorzuziehen (für Fallgruppenbildungen auch Bender in FS Baur und Huber §§ 12 ff. mit einer Vierteilung der Beweismaße in sicher, hoch wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich und überwiegend wahrscheinlich).


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Gesetzestext