Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 2

II. Rekonstruktion der Bestätigungsmöglichkeiten von Sachverhaltsbehauptungen

1. Eigenwahrnehmung

Die einfachste Möglichkeit, sich von der Wahrheit einer Behauptung zu überzeugen, ist die Eigenwahrnehmung des Behaupteten. Sie setzt, wie jeder Versuch, eine Behauptung zu bestätigen, die vorgängige Klärung der Sinnfrage voraus: Was soll eigentlich mit einer Behauptung gesagt sein? Die Lösung dieses Sprachproblems, das der Praktiker beim Studium mancher Schriftsätze spürt, muß in der Praxis keine unüberwindbaren Schwierigkeiten aufwerfen, da man Verständigungsfragen mit einer immer konkreter und anschaulicher werdenden Sprache angehen kann bis hin zu einem Grundvokabular, dessen Bedeutung durch hinweisende Beispiele erläutert wird (vgl. v. Kutschera Sprachphilosophie, 2. Aufl. 1975, S. 152 f.; Stegmüller Zeitschrift für philosophische Forschung X (1955), 509, 511 ff.; zum Stand der sprachphilosophischen Diskussion allgemein Koch/Rüßmann § 16). Aber auch wenn man sich des Sinnes einer Behauptung wegen der gemeinsamen Sprachpraxis für sicher hält, können der Eigenwahrnehmung des Behaupteten noch vielfältige Grenzen gesetzt sein. Die sprachlich einfachste Form einer Behauptung ist die, daß einem Gegenstand eine Eigenschaft oder mehreren Gegenständen eine Relation zugeschrieben wird. Es kann nun sein, daß in dem Zeitpunkt, in dem die Wahrheit einer solchen Behauptung überprüft werden soll, entweder der Gegenstand selbst oder aber die ihm zugeschriebene Eigenschaft nicht mehr existiert. Aber auch bei existenten Gegenständen und existenten Eigenschaften kann die Wahrnehmung daran scheitern, daß die Eigenschaften nicht (jedenfalls nicht direkt) beobachtbar sind. Das gilt zum Beispiel für alle physischen und psychischen Dispositionen wie die Zerbrechlichkeit eines Gegenstandes oder die Einstellungen und Fähigkeiten eines Kandidaten. Ein praktisch überaus bedeutsames Beispiel für eine nicht direkt beobachtbare Relation bildet die Kausalbeziehung zwischen zwei Ereignissen (vgl. zu den Kausalrelationen insbesondere Stegmüller, Probleme, Bd. I, S. 583 ff.). Schließlich muß der zur Wahrnehmung einer an sich wahrnehmbaren Eigenschaft Aufgerufene den ihm zu Gebote stehenden Wahrnehmungsapparat auf Verläßlichkeit überprüfen. Nicht jeder kann Entfernungen schätzen, Farbdiskriminierungen vornehmen oder Geräusche unterscheiden. Auch gilt es zu bedenken, daß schon die Wahl eines Wahrnehmungsstandorts zu systematischen Wahrnehmungsverzerrungen führen kann (vgl. zu Fehlermöglichkeiten einer Augenscheinsnahme auch Döhring S. 315 ff.).


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Gesetzestext