Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
§ 286 Randnummer 1

I. Allgemeines

Abs. 1 stellt zunächst klar, daß in die abschließende Sachverhaltsrekonstruktion alle Informationen einzubeziehen sind, von denen das Gericht prozeßordnungsgemäß Kenntnis erlangt hat (vgl. dazu vor § 284 RN 13), und Abs. 2 macht deutlich, daß das Gericht an Beweisregeln nur dort gebunden ist, wo das Gesetz dies ausdrücklich anordnet. Im übrigen läßt die Vorschrift mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Insbesondere sagt sie nichts darüber, welche Möglichkeiten einem Gericht überhaupt gegeben sind, sich ein tragfähiges Urteil über die Wahrheit einer Behauptung zu bilden. Daß es dem Gesetzgeber trotz Hervorhebung der freien Überzeugung nicht um ein beliebiges, sondern um ein begründetes Urteil ging, macht die in Abs. 1 Satz 2 normierte Begründungspflicht deutlich, die auch durch die Vereinfachungsnovelle von 1976 nicht angetastet worden ist. Man muß sich also zunächst darüber verständigen, wie man zu einem begründeten Urteil über die Wahrheit einer Sachverhaltsbehauptung kommen kann, um sich hernach Gedanken darüber zu machen, nach welchem Kriterium (Beweismaß) man eine Sachverhaltsbehauptung als wahr seinem Urteil zugrunde legen will. Das erste ist kein genuin juristisches, sondern ein allgemeines Problem, das namentlich in der (empirischen) Erkenntnistheorie - Neurobiologie, Psychologie (vgl. dazu auch vor § 373 RN 11 ff. - und in der als Metatheorie verstandenen modernen Wissenschaftstheorie behandelt wird (vgl. dazu die Literaturangaben unter b; Stahlmanns "Sozialwissenschaftliche Überlegungen zur zivilprozessualen Beweislehre" JA 1978, 157 ff.; 216 ff.; 268 ff. sind konfliktssoziologischen Aspekten der Sachverhaltsaufarbeitung gewidmet und tragen für die hier diskutierten Fragen nichts aus). Eine Berücksichtigung des Forschungsstandes der angeführten Disziplinen legt Differenzierungen in den Möglichkeiten, sich ein Urteil über die Wahrheit einer Behauptung zu bilden, nahe, die nicht nur theoretisch fruchtbar sind, sondern auch Klarheit in die von der Alltagspraxis zu bewältigenden Sachverhaltsprobleme tragen können.


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Gesetzestext